Im Gottesstaat Gilead herrscht Ordnung. Die Dystopie „The Handmaids Tale“ (habe nur die Serie gesehen und den zugrundeliegenden Roman von Margaret Atwood nicht gelesen) entwirft eine Welt mit wenigen Rollen: Sicherheitsmänner, Kommandanten, Ehefrauen und Mägde zum Beispiel. Die Hauptfigur ist so eine Magd, das heißt: eine der wenigen Frauen, die noch Kinder bekommen kann und deshalb für hochrangige Funktionäre der Diktatur Kinder austragen muss.
Die Serie entwickelt einen beunruhigenden Sog: Eine Grausamkeit nach der anderen wird gezeigt, wieder und wieder gibt es Vergewaltigungen, Prügelszenen, Hinrichtungen, psychische Gewalt. Und trotzdem konnte ich nicht aufhören, zu schauen. Was sicher auch an der Ästhetik der Serie liegt: Die verschiedenen Rollen werden durch verschiedenfarbige Uniformen kenntlich gemacht. Die Mägde tragen rote Kleider oder Mäntel und eine große weiße Haube. Außerdem sind die Bewegungen im Alltag durch und durch ritualisiert – häufig sehen wir Zeremonien, in denen die Mägde im Kreis gehen oder sitzen müssen. Häufig werden diese Szenen aus der Vogelperspektive und in Zeitlupe gefilmt.
Wir nehmen dabei die Menschen nur noch graphisch war: als Farbflächen, die sich streng geordnet bewegen. Und das verfolgt mich so sehr wie die vielen, vielen Gewaltszenen: Durch die Kamera betrachten wir die Menschen mit den Augen einer Diktatur: Als abstrakte, austauschbare Punkte mit einer festgelegten Funktion. Wenn einer dieser Punkte sich nicht in seiner vorgegebenen Bahn bewegt, ist das ein Fehler, der rasch korrigiert wird. In den Augen der Diktatur wandert nur die rote Farbfläche zurück an ihren Platz. Dann wechselt die Kameraeinstellung und wir blicken dem Menschen in der Uniform ins Auge, der gerade drakonisch für einen Regelbruch bestraft wird.
Übersichtlichkeit
Dystopien sind häufig Visionen von Übersichtlichkeit. Schon die beiden Über-Klassiker: In Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ werden die Menschen in Fabriken gezeugt, ausgetragen und erzogen – mit genau den körperlichen und geistigen Fähigkeiten, die sie für ihre vorgesehene Kaste brauchen. Es gibt einen strengen Recycling-Kreislauf, selbst für Leichen. Und vor allem gibt es einen Plan.
Und in George Orwells „1984“ behält der Staat, der „große Bruder“ buchstäblich die Übersicht: Alle Räume, auch Privaträume, sind mit Kameras ausgestattet. Der Tagesablauf, der für die Menschen festgelegt wird, ist penibel zu befolgen. Wieder gibt es einen Plan, es gibt jemanden, der die Übersicht hat, einen Plan. Der alle Entscheidungen trifft.
Es heißt oft, Dystopien würden eine Zukunft darstellen, die nicht eintreten soll. Eine große Warnung vor Diktatur und Überwachung. Mir sind Zweifel daran gekommen, als ich „The Handmaid´s Tale“ gesehen habe. Ich konnte nicht anders, als mir vorzustellen, wie sich das riesige Team hinter der Serie zusammensetzt und sagt: Ja, lass uns das so machen. Diese roten Uniformen, und dann laufen alle im Kreis. Im Schnee. Wie rote Punkte auf einem Blatt Papier. Lass uns das von oben filmen, was für ein geiles Bild. Das sieht so unglaublich schön aus. Und dann werden Millionen Dollar darauf verwendet, diese Bilder herzustellen. Und Millionen von Menschen schauen gebannt diese Bilder an. Denn sie sind wirklich unglaublich schön.
Abwechslung
Darin, befürchte ich, liegt eine düstere Form von Eskapismus. Viele der Medien, die wir konsumieren, sind auf Informationsvielfalt ausgelegt. Wenn ich Instagram öffne, sehe ich immer kürzere Videoschnipsel, Bilder, ein bisschen Text, die neuesten Corona-Zahlen, ein privates Geständnis, ein Foto vom Hund einer Freundin. Ich fühle Horror, Cuteness, Interesse, Freude, Langeweile jeweils für ein paar Sekunden und muss mich bei jedem Gefühl neu entscheiden: Klicke ich diesen Link? Will ich da rein? Oder will ich einfach noch einen Tab aufmachen und alle Gefühle gleichzeitig haben? Abwechslung, Abwechslung, Abwechslung.
Innerhalb dieser Gegenwart sehen wir eine Zukunftsversion, die all das nicht mehr hat: keine Diversität, sondern Einheitlichkeit. Keine Überfülle, sondern gezielt gesetzter Mangel. Und vor allem sehen wir die durchregulierte Welt, in der jemand (irgendjemand) einen Plan hat. Und das Ganze im Blick. Jemand, der überhaupt definiert, was das ist, das Ganze. Endlich ganz sein.
Text und Handlung warnen in “The Handmaid’s Tale”, aber die Bilder locken. Das ist mein Problem mit vielen Dystopien. Wir zeigen zwar Leiden, aber wir lassen es so DOPE aussehen, dass man gar nicht wegschauen kann. Dass man die Schönheit im Auge der betrachtenden Diktatur nicht mehr vergisst. Dass man glaubt, es könnte ein Ganzes geben, das, wenn wir es nur gegen alle Widerstände durchsetzen, uns eine Farbe und einen Platz auf einem weißen Blatt Papier gibt. Aber das Blatt war nie weiß, sondern immer schon ein riesiger, unüberschaubarer Raum. Ein Raum für Solidarität zwischen Individuen, die keine geometrischen Formen sind, sondern einander sehen. In dem niemand die Übersicht hat und Pläne nur zusammen gemacht werden können. Die Übersicht hat niemand.Aber genau hinschauen können wir.