Komm in meinen Screen, gib mir Feelings.

Das muss gestern gewesen sein.
War es gestern? Einigen wir uns auf gestern.
Hatte irgendwer widersprochen? Es ist diese
Josefine

Gestern also, als ich nach dem letzten Onlineseminar unter der Dusche stand und das heiße Wasser auf meinen Rückenmuskelkater traf und dort nichts ausrichtete, und ich stand da und wartete, und dann wusste ich nicht, ob ich das schonmal erlebt hatte – das: duschen, duschen mit Kater in den langen Muskelsträngen neben der Wirbelsäule -, ob ich das schonmal, genauer: ob ich das heute schonmal erlebt hatte. Diese Schwammigkeit der Tage und des Erinnerns. Hast du heute schon geduscht? Mehr als einmal? Und ist das für irgendwas relevant? Man riecht dich ja nicht, wie du das hier liest.

Meine Lieblingsdichterin Anne Carson schreibt in einem Vorwort zu ihren Euripides-Übersetzungen:

„Es gibt eine Theorie, die besagt, dass es guttut, sich unerträgliche Geschichten über Andere anzuschauen, die in Trauer und Zorn versunken sind. Dass es dich möglicherweise von deiner Düsternis reinigt. Willst du die Gruben deines Ich ganz alleine hinabklettern? Eher nicht. Was, wenn eine Schauspielerin es für dich tun könnte? Heißt es nicht deshalb Handlung? Leute handeln für dich. Du opferst sie dem Handeln. Und dieses Opfer bringt dich in einen Modus tiefster Intimität mit deinem eigenen Leben. […] Indem die Schauspielerin dich wiederholt, opfert sie einen Augenblick ihres eigenen Lebens, um dir eine (deine) Geschichte zu geben.“

Das ist vielleicht die Sache an der Situation, nennen wir sie bitte einfach die Situation. Es fehlt nicht an unerträglichen Geschichten. Auch nicht an Anlässen für Trauer und Zorn. Aber am Zuschauen, an Räumen, sie sich aufzuteilen und zu wiederholen, und - Gott, nicht schon wieder - an einem Modus des Sprechens, denn wie erzählt man das denn am Telefon, von der Schwammigkeit, vom Duschen, hat man das nicht auch eh schon, von all den neu gelernten Arten, auf die ein anderer Körper fehlen kann, von den plötzlichen Rissen, nicht am Telefon, aber wem sag ich das/aber geht ja grad allen so.

Irgendwie ist die Pandemie auch das komplett radikale Fehlen von Bühnen, auf der wir unseren Scheiß verhandeln können. Es gibt so einen New Yorker Comic, in dem es darum geht, ob man denn überhaupt wirklich einen Marathon gelaufen ist, wenn man dabei alleine im Wald war und keiner es auf Social Media gestellt hat, und das klingt wie so billige Alltagskritik, aber der Bär hat einen Punkt.

Wenn niemand applaudiert hat bei der 42km Marke, wenn niemand gesehen hat, wie auf deinem Gesicht etwas ins Unwägbare kippt und gefragt: was ist los?, du nicht einem anderen Körper zugeschaut hast, wie er wie deiner nervös wird, wie sollst du dann klarkriegen, dass irgendetwas stattgefunden hat?

Es gibt diese banalen Momente des Erkennens, die mich regelmäßig retten: erfahren, dass mein Crush mit 15 die gleiche furchtbare Indiepopband mochte wie ich, dass eine neue Freundin einen Schmerz kennt, der meinem ähnelt, herausfinden dass diese eine Autorin, ohne es zu ahnen, auch über mich schreibt. Diese Momente machen etwas besprechbar, was man zuvor allerhöchstens beschreiben konnte, heben etwas in die Welt, und man kann dann darauf zeigen, sich mit einem anderen Körper zusammen hineinlegen und es aushalten, das hier hat einen Namen, es existiert getrennt von mir, und es ist eine Tragödie. Wollen wir sie teilen?

Bis dahin ist es wie einen Traum beschreiben oder eine betrunkene Erinnerung, du sagt „du weißt ja, wie es ist“, aber du weißt es selbst nicht, wie ist es denn, sollen wir nachschauen? Nicht allein. Nicht schon wieder. Jemand soll für mich gehen. Eine Schauspielerin.

Vielleicht ist das, was ein Theaterfestival kann, genau jetzt, hier zwischen den Kissen - an eine ganze Menge erinnern.  Daran, zum Beispiel, was außer dem letzten Sauerteigwitz noch alles mit mir zu tun hat. An die Welt, die die ganze Zeit vor sich hin passiert und nicht aufhört damit, weil sie nicht mehr so viel bei ihrem Namen aufgerufen wird, ans konkrete Wütendwerden und auf der Straße stehen bei der Demo und heulen.

Ich hoffe also auf Besuch hier unten in meiner Grube, hier vor meiner Screenwand. Kommt rein. Fragt nicht, wie es mir geht, fragt nicht, was ich so mache. Gebt mir euer Ganzes, gebt mir all eure Handlung.

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