Die Frage, wie jetzt eigentlich als junge Person umzugehen sei mit der Welt – mit ihren erschlagend komplexen Ungerechtigkeiten, mit der erschlagend unkomplexen Tatsache ihrer Gefährdung – durchdringt die Inszenierungen des Festivals. Die Auswahl zeigt, dass die Antworten darauf deutlich vielfältiger sind, als es im Boomer-TV manchmal aussieht. Was heißt eigentlich Held*innentum in einer Welt, die eh schon kaputt ist von so viel Pose. Soll man da wirklich auch noch die Faust recken und die Beine breit aufstellen? Wohin mit der Trauer? Muss die letzte das Licht ausmachen? Und: aus welchen Wünschen würdet ihr eine andere Welt bauen?
Am stärksten an der Inszenierung “Die R@uber” der wobo Theater-AG fand ich, dass sie eine berechtigte Wut auf die Verhältnisse zeigte, die man so gar nicht so häufig sieht. Ruhige Aufopferungsbereitschaft, Verantwortung und zärtliche Trauer über Verluste, wie sie in “We for future” und “Wir sind alle Kosmonauten” vorkamen, sieht man häufiger. Aber klar: es gibt auch Anlass zur Raserei, zum Ausrasten und zur Leistungsverweigerung. All das war spürbar, vor allem im Ausdruck der Spieler:innen, und vor allem bei den weiblichen Ensemblemitgliedern. So schamlos und selbstverständlich grölen konnte ich als Teenagerin nur angetrunken, und nur in den besten Momenten der Demo.
Aber was ist Wut eigentlich für eine Ressource? Muss sie rein destruktiv sein? Schon kurz nach Beginn des Stücks kam mir die R@uberbande vor wie die überzeichnete Antifa, vor der meine Eltern mich immer gewarnt hatten - wenn die Bande ein Nonnenkloster überfällt, betont, dass Zilivst*innen aus taktischen Gründen nicht angegriffen werden sollten, aber –, wenn die Wut aufs System in komplett ziellose Gewalt umschlägt – da wirkt das alles plötzlich nicht mehr so berechtigt. Die Brutalität der Verhältnisse wird am Antagonisten Franz, einem übergriffigen, korrupten Nice Guy, eindrucksvoll gezeigt, aber sie wird nie überwunden, auch nicht, erst recht nicht in der R@uberbande, die Franz’ Bruder Karl autoritär anführt und für seine persönlichen Interessen einspannt.
Natürlich steht das so im Stück. Aber das ist doch nur ein Stoff.
Man kann ihn falten, aufreißen, umnähen. Und ist dieses Fazit aktuell? Dass Wut aufs System letztlich nur dazu führen kann, dessen Gewalt zu wiederholen, dass man da nicht rauskommt? Das war mein Problem mit dem Stück, und am deutlichsten wurde es für mich an den Frauen - denen auf der Bühne und denen im Stücktext. Wie gesagt, ich fand gerade die Spielerinnen unglaublich ausdrucksstark. Aber so viele von ihnen haben so wenig gesprochen - weil die Räuber ein klassisches Drama ist, und Frauen im klassischen Drama halt nur die Geliebte, die Amme oder ein Baum sind (hier: der See). Muss man das so lassen?
Und dann war da Amalia.
FRAUENHELDINNEN SIND OPFERHELDINNEN
Wenn der Untertitel eines Kinofilms ihn als „Geschichte einer starken Frau“ ausweist, kann man sich eigentlich sicher sein, dass man der starken Frau dabei zuschauen wird, wie sie großes persönliches Leid erträgt. Frauenheldinnen sind Opferheldinnen, egal ob als Mutter, als Kriegerin oder als Intellektuelle. Amalia aus Schillers “Räuber” ist in diesem Sinne vollkommen klassisch: die schöne, moralisch intakte Frau, die andauernd angefasst wird, wo sie nicht angefasst werden will von den Männern des Stücks, vom Bösewicht genauso wie vom gebrochenen Helden - und die am Ende natürlich von ihrem Lover erschossen wird, denn was zeigt die tragische Zerrissenheit eines gefallenen Mannes besser, als wenn er die Frau tötet, die er eigentlich liebt. Und um den Mann und seine Tragik geht es hier schließlich. Ach Schiller. Die Schülerin der wo-bo-Theater-AG spielt diese Rolle mit großer Kraft und Größe, ihre Amalia ist unverkennbar die einzig wirkliche Heldin des Stücks. Aber ich hätte mir so sehr Rache für sie gewünscht – und die kommt nicht.
Kurz, etwa in der Mitte des Stücks, gibt es so einen Moment. Amalia wurde von Franz angegriffen, stürmt aus dem Raum, und dann kommt eine tolle, wütende-Zombies-Performance zu einem Remix von „I’m a survivor”. Da dachte ich: jetzt kippt es. Die selbstherrlichen Penisträger des Stücks haben sich mit der falschen Heldin angelegt, jetzt übernimmt Amalia die Bande und reißt den Brüdern den Arsch auf, enough is enough. Aber Amalia bleibt tugendhaft und stirbt tugendhaft und das ist kaum zu ertragen.
HALT. WILLST DU SO EINE HELDIN SEIN?
Auch Antigone stirbt. Im antiken Drama von Sophokles genauso wie in der Inszenierung “Antigone. Eine Recherche” des stellwerk junges theater Weimar.
Nachdem sie gegen das ausdrückliche Verbot ihres Onkels Kreon, der auch ihr König ist, ihren toten Bruder bestattet hat, wird sie in eine Felsenzelle eingemauert und erhängt sich dort. Daraufhin bricht das Unheil vollständig über Kreon herein.
Ich fand Antigone immer tapfer, vielleicht, weil sie ihren Überzeugungen folgt, obwohl niemand es von ihr erwartet, vielleicht, weil sie die Wahl hat – sie könnte fliehen, sie könnte ihre Tat leugnen - und beides nicht tut. Sie spottet den Gesetzen ihres Onkels noch im Tod, gerade dadurch, dass sie sie respektiert, und ich fand immer, dass sie damit im Grunde eine Vordenkerin des zivilen Ungehorsams ist. Ein selbstzerstörerischer badass, der sich nichts sagen lässt. Sie hat das Volk auf ihrer Seite und weiß das, der Nachruhm ist ihr gewiss. Kreon richtet sie vielleicht nach seinen lächerlichen Gesetzen, aber das Drama gibt ihr Recht. Sie ist es, die am Ende erhobenen Hauptes unsterblich wird.
„Antigone – eine Recherche“ stellt das in Frage. Denn am Ende ist da halt immer noch, so die Idee, eine tote Frau (und eine weitere und zwei tote Männer, da ist man ja im antiken Drama nicht sparsam). Die Inszenierung deutet Antigone als eine weitere Frauenheldin, die sich für einen weiblich markierten Wert – Familie, Fürsorge, Sitte, Pflicht – aufopfert. Ich glaube das nicht, ich glaube Antigone stirbt auch für ihre Sturheit und bricht in ihren Motivationen gerade die gewohnte Binarität von Held*innenerzählungen. (Und überhaupt – warum diese weiblich markierten Werte nicht verteidigen? Sind sie nicht wertvoll?). Aber ich war froh, dass das Stück diese Diskussion aufmacht. Und noch eine weitere, brisantere: Ist das denn wirklich so erstrebenswert – unsterblich werden? Hilft eine tote Heldin?
Sind wir im Stoff gefangen?
ICH WÜRDE JA SOFORT MIT EUCH IN DIE WÄLDER GEHEN, WENN IHR EIN KOLLEKTIV WÄRT.
Was in den Inszenierungen dieses Festivals konstant gefordert wird, ist ein Ende der Dinge, wie sie jetzt sind: der Umweltzerstörung, der Ignoranz und vor allem der Gewalt - der zwischen Mensch und Natur genauso wie der zwischen Mensch und Mensch. Falls es da wirklich einen Unterschied gibt.
Daran schließt sich die Frage an, was auf diese Gewalt folgen soll. Was das Alte ersetzt. “Antigone - eine Recherche” begnügt sich nicht damit, Kreon zu verurteilen, sondern stellt den Stoff, auf dem es basiert, zur Gänze in Frage. Natürlich ist Antigone eine Heldin. Aber in welcher Welt. Wollen wir die behalten? Und wenn wir sie nicht behalten wollen, vielleicht müssen wir dann auch einen Teil von Antigones Heldinnentum begraben. Auch wenn sie uns beeindruckt.
Es gibt noch eine Stelle, am Ende von “Die R@uber”, in denen einer der Räuber bemerkt, dass sie auch in den Wäldern noch alle unter der autoritären Anführerschaft eines Einzelnen leben. Da dachte ich wieder es bricht jetzt - jetzt merken die Räuber, dass sie wirklich eine Bande sind, und dass sie vielleicht keine Herrschaft brauchen. Aber dann sagt er nur: “ich sollte unser Anführer sein”.
Dass die Outcasts dann doch keine Antwort finden auf die Gewalt der Verhältnisse, außer sie zu wiederholen, hat ihre schöne, angemessene Wut delegitimiert. Alle sind schrecklich, außer Amalia, und Amalia ist tot. Das fand ich traurig - und unangemessen pessimistisch.
Denn diese Wut ist ja angemessen. Diese Wut ist berechtigt. Ich glaube nicht, dass nichts Neues aus ihr entstehen kann.