FZ-Redakteurin Laura bewegt sich in Wien zu “Antigone – Eine Recherche” und will mit ihren Kopfhörern diskutieren.
Applaus, Applaus!
Es ist bis jetzt das bewegteste Stück beim TTJ 2021: Das Lambe-Lambe Theater und Audiowalk “Antigone” vom stellwerk junges theater aus Weimar. Von Gather wird man in einen Zoom-Raum geschickt, dort weiter zu einem Video, in dem aus dem Off erzählt wird, wie die Kapitäninnen Carola Rackete und Pia Klemp mit aus Seenot geretteten Geflüchteten an Bord nach mehreren Tagen trotz Verbot in einem Hafen anlegen. Dazu fallen Muttern in eine mit Wasser gefüllte Glasschale. Das Geräusch dabei: ein gedämpft-metallisches Scheppern.Vom Video zurück zu Zoom in einen breakout-room mit wenigen anderen Zuschauer*innen - und einer eigenen Antigone, die dann die Handlung des antiken Dramas nacherzählt. Bei jedem Namen, der fällt, lässt Antigone eine Mutter in einen Glasbehälter mit Wasser fallen , wie schon im Video zu Anfang. Bei Antigones Tod übergießt sich die Darstellerin dann mit dem Wasser. Schon jetzt bin ich voll drin: die intime Atmosphäre im breakout-room wird kontrastiert durch das nüchterne Nacherzählen: Gut, dass sie nochmal auf einen Stand bringen und bedenken, dass nicht alle Zuschauende das ganze Stück parat haben. Ich habe das Gefühl, die Performer*innen gehen auf die Zuschauenden zu, sind Verbündete, möchten wirklich zum Nachdenken anregen, indem sie den Stoff nachvollziehbar machen und setzen eine*n nicht bloß vor die Option: "versteh oder bleib draußen".
Dann kommt der Link zum eigentlichen Audiowalk und die Möglichkeit, diesen als mp3 herunterzuladen und ihn beim Spazieren anzuhören. Eigentlich habe ich keine Lust mehr auf spazieren.
Andererseits möchte ich mich auch dem Format öffnen. Also finde ich mich im real life wieder, doppelte Verschiebung dadurch, dass der Audiowalk eigentlich auf den Bahnhofsvorplatz in Weimar zugeschrieben wurde, aber auch ohne die beschriebene Kiste voll Staub, mit dem ich die Leiche Antigones Bruder bedecken soll, funktioniert das Konzept sehr gut.
Am Zebrastreifen stehend, wird mir gesagt: "Du gehst erst weiter, wenn ich es dir sage". Kurz fühlte ich mich bevormundet, als würde meine ältere Schwester mir sagen, wie ich mich im Straßenverkehr zu verhalten habe, doch dann kommt der Satz: "Ich bin deine Verbündete" und so ist es tatsächlich - die Stimme begleitet mich bei meiner Transformation zu Antigone. Ich solle mich umsehen, ob ich verfolgte werde, denn ich sei dabei etwas Verbotenes zu tun. Dass ich Anweisungen bei Audiowalks befolge, kommt nicht sehr oft vor, aber dieses Stück geht mir durch die bedächtige und doch eindringliche Erzählweise so nah, dass ich mich auf dem Weg zum Grab meines Bruders– äh Antigones – , mehrmals umsehe. Angenehm finde ich hier, dass mir Antigones Emotionen nicht aufgedrängt werden, schon mit Dringlichkeit formuliert, aber an den richtigen Momenten als Frage formuliert, sodass das Ich, mit Kopfhörern alleine spazierend, angesprochen und eingebunden wird.
Ich finde es sehr gelungen, dass nicht versucht wird, ein klares Heldinnennarrativ zu finden, dass die Geschichte Antigones mit der Carola Racketes vereinen soll. Es ist vielmehr ein Angebot, Parallelen zu entdecken, aber auch differenziert zu sehen: Antigone widersetzt sich zwar gleich zweimal dem Gesetz, genau wie Rackete – einmal indem sie das tun, das sie für richtig halten und noch einmal, indem sie zu ihren Handlungen stehen und das Gesetz nicht als unerschütterlich anerkennen. Sie sprechen trotzdem, sie leugnen nicht, sie sind antiautoritär. Trotzdem lädt mich der Audiowalk ein, kritisch zu sein:
Zur Verbrecherin in den Augen des Staates macht sich Rackete, da sie sich nicht an das Gesetz halten kann, das Menschenleben gefährdet.
Antigone hingegen gibt auf, beugt sich am Ende der Autorität. Sie opfert sich auf für andere, durch den Tod wird sie zur Heldin. Rackete hingegen kämpft weiter gegen strukturelle Ungerechtigkeiten.
An dieser Stelle pausiere ich, denke nach - die Entschlossenheit, mit der mir nun Antigone als "gescheiterte" Heldin präsentiert wird, behagt mir nicht. An dieser Stelle wünsche ich mir wieder die Offenheit und Einladung, sich selbst zu positionieren und weniger Festschreibung, bei der ich gerne anfangen würde, mit der Stimme in meinen Kopfhörern zu diskutieren. Aber ich finde wieder zurück und mir werden Fragen gestellt, die mich noch am Tag nach dem Stück beschäftigen: Brauchen wir diese Held*innenfiguren? Was ist, wenn Heldinnen dies gar nicht sein wollen, sondern einfach nur das Richtige tun?
Im Laufe des Walks frage ich mich, was es braucht, um eine Heldin zu sein und merke, dass allein schon das Wort reicht, um mich zu entmutigen. Aber liegt das daran, dass das Narrativ der Heldin bisher so einseitig das einer mutigen, entschlossenen Einzelkämpferin war? Doch vielleicht geht es nicht um Tapferkeit: Weder Antigone noch Carola Rackete haben versucht, tugendhaft gegen das Böse in der Welt anzukämpfen. Es geht auch nicht um Standhaftigkeit bis zur letzten Konsequenz. Um was dann?
Vielleicht geht es um Verbündete, die im richtigen Moment die richtigen Fragen stellen und eine*n über den Zebrastreifen begleiten. In der medialen Darstellung, sowie im Stück stehen die beiden "Heldinnen" alleine da. Heldinnen stehen auf einem Sockel, sie brauchen keine Mitkämpfer*innen. Doch im Audiowalk wird Rackete zitiert, die sich gegen die Inszenierung der Öffentlichkeit ihrer selbst als Heldin oder Heilige wehrt: Sie sei nicht die einzige, die Gutes bewirkt.
Gegen Ende des Walks stehe ich in Weimars Bahnhofshalle, bzw. Wiens Fußgänger*innenzone. Meine Verbündete und ich sehen uns eine Weimarkarte an, sie zeigt mir den Ort, an dem der Stadtrat tagt und Weimar zum sicheren Hafen erklärt: "die Aufnahme in Seenot geratener Menschen (...) zur Kontrolle der Migration über das Mittelmeer". Dann wird es schön radikal - mit Fragen, die lange im Ohr bleiben: Wer überhaupt macht zivile Seenotrettung notwendig? Hat die symbolische Erklärung Weimars zum sicheren Hafen etwas verändert? Braucht es symbolische Taten und Held*innen, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Missstände zu lenken? Warum wird aber Carole Rackete zur Heldin stilisiert, wenn doch der Fokus darauf liegen sollte, dass staatliches Versagen an den Außengrenzen den täglichen Tod von Menschen bedeutet?