Für FZ-Redakteurin Josefine eröffnen sich in “Dieses Blicken III" vom Theater Tempus fugit aus Lörrach ganz neue Möglichkeiten. Und zwar nicht in der Zukunft, sondern jetzt und hier.
Applaus, Applaus!
Die Inszenierung „Dieses Blicken III“ verwischt die Formen. Nicht so sehr innerhalb des theatralen Repertoires (indem zum Beispiel realistisch und abstrakt gespielt, indem getanzt, am Mikro und chorisch gesprochen würde) sondern direkt die Kunstformen.
Im Stream sieht man zwei aufgestellte Leinwände im rechten Winkel zueinander. Sie werden aus der Ecke, die sie bilden, heraus abgefilmt, ein Stückchen vom Raum drumherum ist sichtbar. Manchmal ragt ein Fuß ins Bild, manchmal beugt sich ein Kopf vor. Auf die Leinwände sind die Körper der Spielenden als Schattenrisse geworfen, eine Stimme stellt ruhig Fragen, die mal mit dem eigenen Leben, mal mit politischen Wünschen zu tun haben, aber immer darauf zielen, wie die Welt erlebt wird und wie sie aussehen sollte. Und die immer die ganz persönliche Position fokussieren – unabhängig davon, wie realistisch das ist, wenn es nur darum ginge, womit du dich wohlfühlst, in welchem Beruf würdest du arbeiten? Was ist ein safespace? Wodurch fühlst du dich behindert? Am Ende der Fragen reihen sich die Antworten ebenso ruhig aneinander, wenn ein*e Spieler*in spricht, wird ein Teil ihres Schattenrisses mit Farbe ausgefüllt. So werden aus den Umrissen nach und nach Fotos.
Dass das nicht klassisch theatral ist, ist klar. Im räumlichen Aufbau erinnert „Dieses Blicken III“ an eine Ausstellung, in der auflistenden Textstruktur an Lyrik, irgendwie ist es auch ein (digital) begehbarer Essay: Da wird keine Geschichte erzählt, auch nicht im klassischen Sinne gespielt. Das ist spannend, weil diese Form Fragen aufwirft, auf die die Inszenierung selbst eine von vielen möglichen Antworten ist: Was passiert mit einem Text, wenn man ihn in einem Raum installiert? Wenn man ihn gemeinsam spricht? Was passiert mit einer Frage, wenn viele sie beantworten? Wenn sie von ihrer Antwort getrennt wird? Was passiert automatisch mit einem Körper, sogar mit einem Körper, der sich nicht bewegt, wenn man ihn auf eine Leinwand projiziert? Und was macht das mit den Zuschauer*innen?
Das Theater ist anders geordnet als die gewöhnliche Welt, es fällt aus dem Alltag heraus. Das ist eines der schönen Dinge daran, vielleicht einer der Gründe, warum man da hingehen kann und Dinge über sich selbst lernen, die man eigentlich längst weiß, aber die einfach nicht so nah ran dürfen, wenn Mama sie sagt oder eine Freundin oder man selbst zu sich nachts im Bett. Oder Dinge über die Welt.
Das Anders-Geordnet-Sein des Theaters lässt sich, zumindest laut dem Philosophen Michel Foucault (den man eigentlich immer irgendwie zitieren kann wenn es um die gewöhnliche und ungewöhnliche Welt geht) darauf zurückführen, dass die Zeit dort anders vergeht, und dass etwas ungewöhnliches mit dem Raum geschieht. Das heißt zum Beispiel: Wir sitzen als Zuschauer*innen zwei Stunden im Dunkel, in denen auf der Bühne 50 Jahre vergehen. Oder: Direkt vor uns, nah an der ersten Zuschauerreihe, ist ein Wohnzimmer in Nordrhein-Westfalen, ein Stück weiter hinten kurz vor der Seitenbühne Paris. Wie ist das in Dieses Blicken III?
Ihr habt es vielleicht schon gemerkt. Wir befinden uns auf einem Onlinetheaterfestival. Auf einem Online-Theater-Festival - jedes davon ist für sich genommen schon überfordernd - auf dem immer wieder die Zukunft und die unmittelbare Gegenwart verhandelt werden. Das heißt: Alles ist die ganze Zeit unglaublich schnell, und unglaublich, unglaublich gleichzeitig. Könnte jemand den parallel laufenden Redaktions-Chat und die kleinen Figuren, die durch Gathertown rennen, in hellgrau unter diesen Text legen? Könnte noch irgendwas andauernd Blinken? Was ist mit Vibration? Das würde einen Eindruck vermitteln.
Diese Gleichzeitigkeit lässt sich gar nicht vermeiden, Festivals sind überintensiv, das macht den Spaß aus, und klar, klar, unsere Handys. So ist das eben. Die Überfrachtung hat auch ihren Weg in viele der Inszenierungen des Festivals gefunden. Es wird gleichzeitig gesprochen, Musik dröhnt auf, Werbung schießt quer, Strobo. Das ist ein kluges Mittel und hat mich in vielen Fällen gleichsam angestrengt wie begeistert.
Aber gerade in diesem Kontrast wirkt Dieses Blicken III wie ein Tauchgang. Plötzlich ist alles langsam und irgendwie weicher, Chronologie fehlt nicht, sondern ist einfach weniger wichtig. Ich habe die Inszenierung vom Anfang bis zum Ende gesehen, hatte aber immer das Gefühl, ich könnte auch jetzt dazukommen, oder jetzt, es ist nicht so wichtig, man kann im Grunde überall anschließen. Ein bisschen war es wie zu einem Gebet dazukommen und lauschen, und den Platz für die eigenen Gedanken darin suchen.
Ein bisschen schade ist, dass man sich in diesen gemeinsamen Nachdenkraum gerade nicht körperlich hineinbegeben kann. Ich hätte mich gerne auf den Boden gelegt. Im Verlauf der Inszenierung erzählen die Spieler*innen, was für sie ein Safe-Space ist. Und der Teppich vor den Projektionswänden fühlt sich ganz stark nach einem an.
Trotzdem macht gerade das Digitale diesen Raum auch weit. Zum Ende der Inszenierung schnipsen die Spieler*innen sich mittels Greenscreen an alle möglichen Orte: in ihre Wunschberufe, an Sehnsuchts- und sichere Orte. Wir sind auf einer Ballettbühne, auf einem Berg, tief im Wald. Die Message in Bezug auf die schwieriger zu visualisierenden Wünsche für die Welt ist ähnlich: Respekt, Gleichberechtigung, Solidarität zwischen den Spezies (Spezi-en? -essen? Spezi-äh? Spezifika?) können und sollten jetzt beginnen, für jetzt eingefordert werden, sind jetzt möglich.
Die Installation ist ein Ort, der diese Möglichkeiten öffnet. Der keine Utopie irgendwann in der Zukunft ist, sondern schon da, mitten in einer anders geordneten Welt, in direkter Nachbarschaft zu ihren Regeln. Aber beharrlich eigene Regeln setzend. So kann dieser Raum hier und jetzt das Bestehende in Frage stellen, vielleicht in die gewöhnliche Welt ausgreifen. Das ist der schöne, sehr starke Ansatz von „Dieses Blicken III“. Der Ort, den wir uns wünschen, kann schon da sein.