In Gedankenschritten schreiten

Im Audiowalk “Antigone – eine Recherche” des stellwerk junges theater aus Weimar erlebt FZ-Redakteurin Lisa Stille und eine Konzentration ohne Kraftaufwand.

Applaus, Applaus!

Lisa

Es geht los. Wir sind versammelt in einem Zoom-Meeting. Wir, das sind die Zuschauer*innen — und dann gibt es noch eine Hand voll Antigones, die uns aus ihren Zoom-Kacheln anschauen. Hinter Topfpflanzen versteckt, aufrecht vor Spiegelfolie oder einem „Leave No One Behind“-Plakat sitzend. Es gibt eine Gastgeberin, die mit selbstsicherer Ruhe erzählt, was uns erwarten wird: Ein Video. Ein Zusammentreffen in kleinen Breakout-Gruppen bei Zoom. Ein Audiowalk. Und trotzdem bleibt es spannend, denn wir wissen nicht, was  dort genau passieren wird.

Mit einem Vimeo-Link im Chat geht unser selbstständiger Weg durch die Aufführung los. Das Videoformat lässt uns alleine in eine Lambe-Lambe Box schauen, ein Miniaturtheater, in dem eine Person spielt und eine zuschaut. Hier wird Carola Racketes Geschichte erzählt. Das Lambe-Lambe Format in ein Video zu übersetzen, um es digital zugänglich zu machen, ergibt für mich total Sinn. Mein Laptop wird zum Guckkasten, ich zur stillen Beobachterin und Zuhörerin.

Wenn wir das Video fertig geschaut haben, sollen wir unsere Kameras bei Zoom anschalten. Damit ein Überblick entsteht, wer wieder da ist. Eine geschickte Lösung. Nachdem wir alleine in die Box geschaut haben, treten wir zurück und sehen die anderen Zuschauer*innen. Sehen auch uns selbst in unserer eigenen kleinen “Box”. Wir werden in kleinere Gruppen aufgeteilt und haben nun eine Privataudienz mit Antigone. Sie erzählt uns ihre Geschichte. Das individuelle Gucken wird mit einem Gefühl der Kollektivität ergänzt. Wir sehen, wer noch so im Publikum ist, wer neben uns noch alles diese individuelle Reise durchlaufen wird — so wie ich es auch im Zuschauer*innenraum immer gespürt habe. Dieses Gefühl von: alle erleben gerade zwar das Gleiche, aber trotzdem passieren da in den verschiedenen Köpfen verschiedenen Sachen. Was ja irgendwie klar ist, aber trotzdem immer wieder schön zu erleben.

Mir wird Stille gegeben

Antigone entlässt uns mit einem weiteren Link in den abschließenden Audiowalk. Den können wir entweder zusammen mit einem Video anschauen, oder einfach nur als Audiodatei anhören. Ich entscheide mich für letzteres, lege mich auf mein Bett, mache die Augen zu und schreite in Gedankenschritten den Weg über den Weimarer Bahnhofsvorplatz, während sich die Geschichten der zwei Heldinnen Carola Rackete und Antigone miteinander verbinden.

‘Ich tat es. Ich bekenne es. Und ich leugne es nicht.’

Zwei Frauen mit klarer Haltung, die den zivilen Ungehorsam in ihrer Situation als unbedingte Notwendigkeit sehen. Es werden Fragen gestellt. Ich werde mit Du angesprochen, ich werde aufgefordert -  mir wird Stille gegeben, immer wieder. Es gibt Pausen im Sprechen, die dem Gesagten Platz geben. Es gibt Musik und Vögelgezwitscher. In diesen Momenten können die Fragen in meinem Kopf weiterspinnen, können sich vernetzen und an andere stoßen. Das Audioformat ermöglicht eine Konzentration, die ohne Kraftaufwand kommt. Und es ermöglicht eine ganz persönliche, innere Umsetzung des Stoffes. Ich werde herumgeführt und kann trotzdem einen eigenen Weg gehen.

Vielleicht ist es genau das, was ich an dieser Inszenierung so schätze. Den Zuschauer*innen wird eine Selbstständigkeit zugetraut. Und eine selbstständige Haltung kann eingenommen werden, weil es eine klare Struktur, ein genau richtiges Maß an Vorgabe und Freiheit für die eigene Vorstellungskraft gibt. So verweben sich die Geschichten der zwei Frauen ganz unbemerkt, aber sehr präzise mit unseren. Die unterschiedlichen Medien erfüllen in ihrem Wesen einen bestimmten Zweck, der die Weitergabe und Aufnahme des Inhalts unterstützt. Ein unglaublich gelungenes, digitales Format, eine tiefgehende Recherche voll Klarheit und Mut.