Wenn sich die FZ-Redaktion morgens zusammensetzt, gibt es häufig Diskussionen. Was hat uns gefallen oder gelangweilt, worüber haben wir nachgedacht - und was war los in der Szene, in der mein Internet abgeschmiert ist? Ganz selten kommt es vor, dass sich die Redaktion ziemlich einig ist. Bei “Die Verdunkelung” war das so. Die Reaktion auf die Inszenierung des Piccolo Jugendklubs vom Piccolo Theater Cottbus lässt sich zusammenfassen mit ja, ja, ja. Weil das aber keine Rezension ist, haben Laura, Josi, Miedya und Jannika jeweils einen Absatz darüber geschrieben, was sie am meisten beeindruckt hat.
Applaus, Applaus!
Laura: Ich frage mich, was mich aus den Socken gehauen hat. Warum ich durchgehend Gänsehaut und am Ende Pipi in den Augen hatte, als die Erde in der letzten Szene angestrahlt wird und sich langsam das Licht dimmt. In einer früheren Rezension haben wir uns darüber unterhalten, warum sich der Stoff "Klimakrise" so schwer künstlerisch umsetzen lässt: Die Auseinandersetzung fällt oft in Narrative der individuellen Verantwortung, der Überforderung durch ausweglose Zukunftsszenarien oder in aktivistischen Pathos. Dieses Stück hat all diese Narrative aufgegriffen, von vielen Seiten beleuchtet, dem Publikum zugespielt und sich dem Prozess ausgesetzt, die Widersprüche zu verstehen und auszusprechen: Es gibt die Arbeitenden, die sich durch den Druck in der Schlachterei von ihrer Tätigkeit entfremden und minutiös voller Verachtung ihr eigenes Vorgehen schildern. Dennoch wird nicht versucht zu verhandeln, die Gruppe behält ihren klaren, radikalen Standpunkt und verlieren sich nicht darin, lahme Bundestag-Kompromisse zu finden. Es wird an die individuelle Verantwortung appelliert, aber ins utopisch-revolutionäre gehoben – wenn die ganze Welt vegan leben würde, wäre damit mehr erreicht als mit jeder Demo, jedem anderen Verzicht. Das Publikum wird eingebunden, indem in überdrehter Unterhaltungsshow-Manier aufgefordert wird: einen tosenden Applaus für die Nummer "Ich bin ein Gletscher und versuche nicht zu zerbrechen"! Dabei werden die Zuschauenden zu Mitbeteiligten bei einer spektakulären globalen Verdunkelung, deren Konsequenzen für die westliche Zivilisation (noch) nicht katastrophal spürbar sind. Vollkommen vom Stück überzeugt hat mich dann der Brief an ein ungeborenes Kind, das sehr wahrscheinlich in einer veränderten Welt aufwachsen wird. Die Worte, die gefunden werden, sind dabei so berührend, so empowernd und poetisch, führen die politische Wut in eine reflektierte, fast schon resignierte persönliche Haltung, die aber nicht aufgibt, sondern am Zwischenmenschlichen festhält. Ich finde "Die Verdunkelung" einfach auf allen Ebenen krass gut, Punkt.
Josi: Und dann ist da ja auch eine ganze klassische Tragödie, einfach in einer längeren Szene verhandelt. Liebe, Aufopferung, Sorge, Verrat, Katastrophe, Spannung: alles dabei.
Eine Figur, wie sonst auch in „Die Verdunkelung“ durch organisch voneinander die Erzählung übernehmende Spieler:innen dargestellt, erzählt uns von Katrin. Katrin ist tot. “Ich habe Katrin geliebt, jetzt muss ich sie begraben.” Vorher musste sie ihr den Kopf abschlagen.
Aber zunächst die Liebesgeschichte. Die Figur erzählt uns die Geschichte von ihr und ihrer Schlange Katrin. Es ist die erste ernstzunehmende Geschichte von Liebe zwischen einem Tier und einem Menschen, die ich im Theater gesehen habe. Dass Beziehungen zu Haustieren richtige Beziehungen sind, dass es auch zwischen den Spezies Bindungen gibt, die so eng und wertvoll sind wie zu menschlichen Freund*innen, ist eigentlich einigermaßen bekannt, und im letzten Jahr in der Isolation vielleicht noch deutlicher geworden. Aber ich habe noch nie gesehen, dass diese Art von Bindung so ernst genommen, so präzise erzählt wurde. Das ist auch deshalb berührend, weil es endlich mal eine Geschichte von tiefer Liebe ohne Romantik oder Sexualität ist. Die Sprecherin und ihre Schlange liegen zusammen auf dem Sofa und schauen Game of Thrones. Ein Ritual. Alle sind sicher und verbunden. Es ist gut. Das allein fand ich schon klug und berührend.
Aber dann stellt sich heraus, dass XXX und wir uns getäuscht haben, und das ist noch klüger und berührender: Eines morgens liegt Katrin stocksteif und ausgestreckt neben ihrer Menschenfreundin im Bett. Weil sie misst, ob ihre Beute ganz in sie hineinpasst. Huch. XXX wird von Katrin angegriffen und haut ihr mit dem Küchenmesser den Kopf ab. Es ist schrecklich, aber es ist hauen oder gefressen werden. „Man kann die Natur nicht zähmen. Nicht auf Dauer. Nicht! Mal! Ich!“
Abgesehen davon, dass dieser Showdown so spannend ist wie das Finale von „Texas Chainsaw Massacre“, liebe ich diese Pointe: dass liebende Naturbeherrschung eben immer noch Beherrschung, immer noch Hybris ist, dass der Versuch, die Krone der Schöpfung zu sein, immer noch zerstört. Auch mit den allerbesten Intentionen.
Jannika: Mein erster Eindruck von der Verdunkelung ist: Das könnte auch im Abendprogramm bei Arte laufen. Die Kamera (und somit mein Blick) folgt einem Mann, der von der Straße durch eine Tür über die Bühne geht und sich als einziger in den Zuschauerraum setzt. Von dort schwenkt die Kamera zur Bühne, ich sehe, wie sich die Spieler*innen formieren. Dann wird es dunkel und die Spielenden öffnen eine Tasche in der Mitte der Bühne, aus der Licht und Nebel aufsteigt. Ich bin überrascht, wie gut die Kamera selbst bei schwierigen Lichtverhältnissen die Stimmung einfängt und sie deutlich auf meinen Bildschirm überträgt. Von Anfang an ist klar: Das hier ist kein Theaterabend, der abgefilmt wurde. Die Kamera wurde sorgsam bedacht und ist ein wesentlicher Bestandteil des Erlebnisses, das uns der Jugendklub Piccolo beschert. Die Spieler*innen des Ensembles gehen mit dieser (vermutlich neuen) Situation so professionell um, dass ich den Eindruck habe, sie könnten allesamt schon Filmerfahrung haben. Es gibt nicht einen Moment, in dem die Kameras den Spielenden im Weg sind; ebensowenig lassen sich die Spielenden von den Kameras beeindrucken. Sie spielen als sei gar keine Kamera da und doch weiß ich: es ist ein sorgfältig choreografierter Tanz, den sie uns da zeigen. Hinzu kommt, dass der gesamte Bühnenraum und die Publikumstribüne bespielt werden - auch diesen Aspekt berücksichtigt die Kamera scheinbar mühelos. Die Präzisionsarbeit, die hier vom gesamten Team geleistet wurde, ist ganz großes Kino.
Miedya: Es brauchte einen Moment bis ich reingekommen bin, aber dann habe mich an die Verdunkelung geklammert wie ein Baby ans Schnuffeltuch. Selten habe ich den Generationenkonflikt so eindrücklich künstlerisch verarbeitet gesehen. Eltern haften für ihre Kinder? Kinder haften für ihre Eltern!
Die Inhaftnahme aller Lebewesen, die weiterleben müssen auf dem, was Jahrzehnte der Ausbeutung aus der Erde gemacht haben, war für mich das zentrale Motiv des Stücks. Die Dramaturgie war für mich dabei das herausragendste Novum. Das Ensemble schafft es, einem sonst so abstrakten, so großen Thema eine richtig theatrale Form zu verleihen. Mit einem klaren Aufbau, der Höhen und Tiefen kennt, der Liebesgeschichte neben Horrorszenario stellt, verschiedenste Orte bespielt, echte Beziehungen zwischen Menschen, Tieren, Landschaften zeigt. Eine Dramaturgie, die der Ganzheitlichkeit der Klimakrise versucht gerecht zu werden. Dabei werden manche Aspekte nur kurz angeschnitten im Vergleich zu anderen, das ist schade, aber verständlich. Zeitlich begrenzte Rahmen erfordern eben Entscheidungen. Um all die weitreichenden Folgen, Faktoren und Fragen zum Klimawandel ausführlich zu behandeln, hätte aus dem kurzweiligen, packenden Stück ein mehrtägiges Festival gemacht werden müssen.
Des Weiteren ist es eine dramaturgische Leistung, die über das Zusammenstellen von Ereignissen hinausgeht und in sich eine Entwicklung aufweist, weil Szene für Szene mehr Normen in Frage gestellt werden. Die Verdunkelung der Welt, sie scheint im Kleinen anzufangen, beim Haustier, beim Du und Ich, und setzt sich entsprechend im großen Ganzen fort, doch im Laufe des Stückes wird klar: das Gegenteil ist der Fall, im großen Ganzen ist es lange schon dunkel und die Sprechenden hier sind die Ersten, die mitansehen müssen wie dem Kleinen, dem Privaten, dem Kinderwunsch und Kindseinwunsch, dasselbe Schicksal droht .Theatermittel scheinen meist bedacht eingesetzt, was gesagt wird und wie es gesagt wird wirkt selten random: Ein Choreinsatz endet mit ‚Wir sind die Flut, wir sind die Arche.‘ In weiß, der Farbe der Unschuld schlechthin, begegnen mir die Schlachthofarbeiter*innen und zeugen vom völligen Verlust der Unschuld. Reihum beklatscht man sich in manisch-motivierender Clubamateurmanier, um dann den Applaus raus aus dem dunklen Saal zu richten und hin zu Inselstaaten, die für unseren Lebensstil wortwörtlich untergehen werden. Es ist, als würden diese Jugendlichen die planetarische Anspannung wirklich spüren, die man als deutsche Bürger*in sehr komfortabel verdrängen kann. Ich bin dankbar für diese Umsetzung, für den Beweis, dass Klimathematiken nicht langweilig und durchgekaut sind, sondern der Umgang unser Elterngeneration mehr ein Umgehen war.