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in “4 WËNDE” vom Jugendclub Die Aktionist*innen vom Maxim Gorki Theater werden die „Wände“ konsequent herausgearbeitet - die “Wende” bleibt zu diffus. Trotzdem beeindrucken die Performer*innen.

Applaus, Applaus!

Tabea

Elektronische Beats und eine vierzigjährige Männerstimme. Es geht um Aufwachen in Neukölln, einen schäbigen Balkon, das Schauen auf die Leute und einen hustenden Nachbarn. Hinter einer schmutzigen Scheibe, kaum sichtbar: eine junge Frau. Im Laufe des Intros kratzt sie mehr und mehr Belag von der Scheibe, ist immer klarer zu sehen.

Insgesamt sechs Schauspieler*innen werden in unterschiedlichen Konstellationen gezeigt. Zuerst: Zwei Frauen unter altmodischen Lampen, die quadratische Lichträume auf den Boden werfen. Die Reflexion über Wände beginnt. Rastlos laufen sie zwischen den Grenzen ihrer Räume hin- und her und sprechen Sätze in die Leere. Sehnsüchtige, fragile Sätze wie: „Am schönsten sind meine Wände, wenn ihr da seid“.

Zuerst geht es um die Wände des eigenen Raumes: Es werden (Kinder)zimmer beschrieben, die gemütliche Einrichtungen oder auch nur einen Koffer enthalten. Die Beschreibungen zeigen erste Unterschiede zwischen den Figuren auf – während eine Person aufgrund ihrer Fluchterfahrungen immer wieder das Zimmer wechselt, gibt sich eine andere Mühe, es sich gemütlich zu gestalten.

Nicht alles, was ein Privileg ist, muss verschwinden

Es geht auch um die Umgrenzungen von Safe-Spaces – gibt es die überhaupt? Wer ist darin enthalten? Wieder geben die Figuren unterschiedliche Antworten – von innerer Ruhe, zu den Lieblingsmenschen, zu einer abgeschlossenen Tür ist alles dabei.

Schließlich geht es auch um Wände in der Kommunikation und einer Person wird klar, dass sie mit manchen Fragen „total gegen die Wand“ läuft, weil sie für andere keinen Sinn ergeben. Es werden Privilegien in Bezug auf die Fragen, die sich Menschen wie selbstverständlich stellen (dürfen) deutlich.

Zum Beispiel: Auf die Frage „Gegen was würdest du auf die Straße gehen, wenn es dir jetzt wieder möglich wäre?“ werden verschiedene Antworten wie Klimawandel, Menschenrechtsverletzungen und Sexismus gegeben. Dazwischen werden Äußerungen eines Mannes eingespielt, der auf der Straße lebt.

Soll das den Zynismus verdeutlichen, dass manche Menschen auf die Straße demonstrieren, während andere auf der Straße leben? Wieso ist das überhaupt ein Widerspruch?

Die Sequenz endet damit, dass es ein Privileg ist, zu demonstrieren. Dass nicht alles, was ein Privileg ist, auch verschwinden sollte, bleibt unberücksichtigt.

Aktivismus als bequemes Luftschloss

Was würdest du tun, wenn dir alle leerstehenden Wohnungen in Berlin gehören würden? Die Antwort: Sie an Obdachlose geben. Hier zeigt sich besonders deutlich, wieso die Wende in diesem Stück nicht durchdacht ist. Es werden hypothetische Fragen gestellt, die die Machtlosigkeit der Individuen verdeutlichen. Denn natürlich gehören niemandem auf der Bühne alle Wohnungen in Berlin. Dass politischer Aktivismus aber auch im Kleineren anfangen kann, dass man das eigene Gästezimmer oder das nächste freie WG-Zimmer ebenfalls an eine obdachlose Person geben könnte – das wird nicht gesagt. Aktivismus als bequemes Luftschloss, das keine Verluste für die einzelnen Menschen bedeutet.

Die Protagonist*innen suhlen sich weiter in der eigenen Machtlosigkeit: Sie sprechen zu sich selbst, in den leeren Raum, ohne sich einander zuzuwenden. Sie reflektieren ihr Alleinsein, aber nicht ihre Möglichkeiten, dieses zu mindern. Sie zeigen ihre Privilegien, ohne ihren Umgang damit zu ändern. Das Stück erinnert mich an einen 20-jährigen Cis-Dude, der mir auf der Party erklärt, wie gut er Feminismus verstanden hat, mich dabei aber dauernd unterbricht.

Das Stück hat eine konsequente, moderne Ästhetik, bedient sich harter, eckiger Formen, die Figuren tragen Sportkleidung. Sie sind divers besetzt, jung und ausdrucksstark. Die Bewegungen sind exakt auf die Beats abgestimmt und es gibt eindrucksvolle Tanzelemente. Als ich das in der Redaktionssitzung lobe, wendet eine andere Redakteurin ein, das sei alles schonmal dagewesen. So ist das wohl mit Klischees: Kennt man sie nicht, liebt man sie wahrscheinlich. Und ja, ich habe sie geliebt – die fiebrigen Performances auf dem kargen Bühnenboden und diese Stelle, in der ein junger Mensch gegen eine Grenzmauer kämpft, immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen wird und schließlich mit sich selbst zu tanzen beginnt, bevor er den nächsten Versuch wagt.

Gebt mir auch ein bisschen Wende in euch

Ich vermisse Jugendlichkeit bei den Protagonist*innen und dem Stück. Meine liebste Interpretation des Wand-Motivs war die Klotür in der Schule, die durch „Make Hummus, not war“, „Ich bin depressiv, wer noch?“ und „Love & Drugs“ genau das darstellt, was das Potenzial des Stücks ist: Eine Reflektion darüber, wie es ist, ein politischer Teenager in einer ungerechten Welt zu sein. Wie es sich anfühlt, ein unbeschwertes Lebensjahr an die Pandemie zu verlieren und dieses Jahr hauptsächlich durch eine digitale Wand zu begreifen.

Diese Konkretheit geht am Ende wieder verloren, wenn pauschale Plattitüden wie „Wir besitzen immer mehr Dinge und vergeuden fast alle!“ durch den Raum gerufen werden, die meine Oma (oder der vierzigjährige Sänger aus dem Intro) unterschreiben würde und die an dem vorbeigehen, was zumindest ich in meiner Jugend empfunden habe: Melancholische Verzweiflung über meine Rolle in der Welt, die durch Intellektualisierung nicht leichter, nicht verständlicher und nicht wichtiger wird. Zeigt mir nicht nur die Wände vor euch, gebt mir auch ein bisschen Wende in euch – mit Verletzlichkeit auf der Klotür und den Worten, die ihr schon habt: Zeigt mir „dieses unbändige Verlangen nach mehr“.