„Zeugten doch aus anderm sich die Menschen Kinder, wäre nicht das Weibgeschlecht! Dann gäbe es kein Übel für die Sterblichen.“ (Euripides)
Die Schauspielerinnen des Projektkurses “Darstellendes Spiel/Tanztheater Lysistrate Goethe Gymnasium Schwerin” demonstrieren einen Leidensweg und wir leiden mit ihnen: Wir sehen sie barfuß über spitzes, knackendes Geäst hetzen, mit den Fingernägeln an Wänden kratzen - mal in einer bildgewaltigen Synchronität, mal jede Medea für sich, ein individuelles Schicksal. Im Fokus der Tanzbewegungen stehen die Hände: Wir sehen kein Blut, aber denken es mit. Die Hände sind nicht selten auf Herz und Kopf gerichtet, sie deuten auf die Schmerzen, die Medea aus Liebe erduldet, auf den fortschreitenden Wahnsinn. Am Ende zerbrechen die Medeas die Äste des Bühnenbildes: Sie zerbrechen ihren eigenen Stammbaum, zerbrechen sich selbst. Die Bewegungen sind nicht zart, nicht federnd, sie sind bruchstückhaft, angedeutet, ausufernd, zerrissen.
Medea war, ist und wird zerrissen sein: Sie pendelt zwischen zwei unvereinbaren Polen. Zunächst gebunden an ihre Heimat, zu familiärer Loyalität verpflichtet, dann die Polarität wechselnd, löst sie sich von ihren Pflichtgefühlen und gibt der Anziehung Iasons nach. In Korinth rastlos zwischen ihrem Rachedurst und ihren Muttergefühlen treibend, wird deutlich, dass es Liebe ist, die Medea begehrt, bewegt und auseinanderreißt.
“Sie haben die Macht. So bleibt mir die Ohnmacht“, beklagt Medea, die erschüttert_verbannt_betrogen_verschmäht dem Willen Iasons und König Kreons ausgeliefert ist. In ihren Worten hallt die Frage nach der Deutungshoheit über eine Figur, die seit dem 8. Jhd. v. Chr. von Männern erschaffen_vernichtet_beschrieben_verschrien wird, wider. Im Ur-Mythos der griechischen Antike war Medea keine Kindesmörderin. Erst im Laufe der Jahrhunderte lädt sie Schuld auf sich – durch das Wirken der Mächtigen, durch die antiken Dichter. Euripides interpretiert Medea neu, schafft eine Figur, die sich von Rache getrieben ihren Leidenschaften hingibt. Er will menschliche Abgründe durchleuchten, Hass darstellen – vielleicht sogar Abscheu erzeugen?
Auch Ovid widmet sich dem Medea-Mythos: Er lässt sie einen Liebesbrief an Iason schreiben und darin erneut Rache schwören. Ihre Bluttaten werden in seinen Metamorphosen nicht explizit beschrieben, dennoch lässt er Medea gegen moralisches Recht verstoßen. Senecas Medea dient der nachdrücklichen Kritik an affektgesteuertem Handeln, sie fungiert als Negation des stoischen** sapiens, des stoischen Wesens. Fast könnte behauptet werden, er entmenschlicht Medea dadurch. Eine Frau als Blaupause für frevelhaftes Handeln. Alle Dichter eint der Vorwurf, Medea entscheide sich bewusst für ihre Leidenschaft und damit für falsches, selbstsüchtiges Handeln.
Eine neue literarische Perspektive bietet Christa Wolfs Medea. Stimmen. Sie verwirft die Schuldzuweisungen ihrer männlichen Vorgänger und lässt die Ur-Medea zu Wort kommen, eine dem Patriarchat schutzlos ausgelieferte Fremde. Die Beschlüsse ihrer Medea werden nicht ausschließlich durch Liebe, sondern auch durch ihren Moralkompass geformt. Erst die Verleumdungen und die Verfolgung durch die fremdenfeindlichen Korinther*innen sowie die Hinrichtung ihrer Kinder ruft in ihr eben jene Rachefantasien hervor, die ihr die griechischen Autoren erdichten.
„Für dich habe ich getötet und geboren“ (Medea - Variationen)
Auch wenn feministische Deutungsansätze der griechischen Mythologie lohnenswert und literarische Neuinterpretationen der Geschichten dringend notwendig sind, dürfen die Frauen der altgriechischen Literatur nicht ohne Weiteres als feministische Vorkämpferinnen begriffen werden. Odysseus Penelope ist scharfsinnig, aber keine Alleinherrscherin, Klytaimnestra rächt sich auf brutale Weise an ihrem verhassten Ehemann, lässt jedoch auch seine trojanische Geisel Kassandra töten. Und auch Medea macht sich in den antiken Dramen radikal abhängig von ihrem Mann. Umso schöner ist es, dass Medea. Variationen keine Wunschdeutung des Stoffes zeigt, sondern die Zerrissenheit einer Frau zwischen der Liebe zu ihrem Mann und ihren Kindern, zwischen ihrer Heimat und ihrer Sehnsucht, zwischen der Deutungshoheit misogyner Autoren und einer Neuausrichtung, die mit Christa Wolf ihren Anfang nahm: Medea 2.0 - Sie steht noch immer vor der Anklagebank. Aber inzwischen ist der Prozessausgang ungewiss.