Die Welt im Eimer

Ich verlasse gestern Abend nach der Vorstellung den Theatersaal und fühle mich unwohl. Davor hat mich das Stück Raunen des Jungen Theaters Heidelberg, Club #4 „Kommt Zeit, kommt Rat“ für eine Stunde mit Weltuntergang, sozialer Ungerechtigkeit und der (Un)Möglichkeit einer Rebellion konfrontiert.

Während das erste Drittel der Vorstellung das Weltende mit düsteren Sprachbildern und ekstatischen Totentänzen heraufbeschwört, verhandelt das zweite Drittel ganz konkret die Chancen und Grenzen von Solidarität unter den intersektional Benachteiligten. Im letzten Drittel hingegen geht es um Widerstand. Ich werde als Zuschauer*in direkt angesprochen und zum Widerstand animiert, bekomme das Superheld*innencape durch mein schuldbehaftetes Weißsein im postkolonialen Kontext aber ganz schnell wieder gestutzt. Was bleibt, ist ein Gefühl der Ohnmacht und dieses titelgebende Raunen, eine Reihe von Fragen, auf die es keine Antworten gibt und eben dieses Unwohlsein, das ich zunächst nicht richtig einordnen kann.Relativ früh im Stück, als die Apokalypse schonungslos mit Endzeittechno, feindlich gesinnten UFOs und halb ertrinkenden Darsteller*innen vor mir ausgebreitet wird, greift in mir ein Selbstschutzmechanismus, der mich ziemlich schnell vom Geschehen auf der Bühne entkoppelt und mir beruhigend zuflüstert, dass doch alles nur eine Dystopie und in ein paar Minuten wieder vorüber sei. Die Drastik und Ernsthaftigkeit der Schilderung ohne eine rettende Portion Zynismus oder Galgenhumor erlaubt mir kaum, mich auf dieses so drängende Thema einzulassen, ohne von der Eindringlichkeit und Unausweichlichkeit des drohenden Endes überrollt zu werden.

Auftritt innerer Millennial: „Erfolgreicher Widerstand gegen die großen, abstrakten Begriffe ist doch eh eine Utopie. Eine etwas verspätete noch dazu.“

Als westlich sozialisierter weißer Zuschauer habe ich schon von klein auf gelernt, den Widerspruch zwischen westlicher Lebensweise und Idealismus zu internalisieren, gelegentlich ironisch zu brechen, aber auf keinen Fall ernsthaft zu hinterfragen, weil das relativ schnell die Grundlagen meiner eigenen Existenz in Frage stellt. Es ist leicht, immer gleich ein ganzes System für die Misere verantwortlich zu machen oder auf die ganz persönlichen Erfahrungen zu verweisen. Der Raum zwischen Systemfrage und individueller Betroffenheit hingegen lässt sich schwer füllen und noch schwieriger auf eine Bühne bringen. Zwischentöne jenseits von Anklage und Verzweiflung haben mir manchmal gefehlt. Ist kritischer Konsum nicht auch ein Anfang? Oder muss ich mich automatisch schuldig fühlen, wenn ich mich nicht jedes Wochenende an Bahngleise ketten kann? Innerer Millenial ab.

Auftritt innerer Jonathan Franzen*: „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“

Mit der Distanzierung aus dem ersten Drittel werde ich spätestens im letzten Drittel des Stücks erneut konfrontiert, wenn ich auf die Machtverhältnisse zwischen Bühne und Publikum, globalem Süden und Norden aufmerksam gemacht werde. Die leise Hoffnung auf Solidarität aus dem Mittelteil, wird durch den Verweis auf die weißen und wohlständigen, historisch schuldbeladenen Körper wieder ernsthaft in Frage gestellt. Auch wenn dem entgegengehalten wird, dass ich meine Privilegien nutzen sollte, um anderen einen Raum für ihre Stimme zu geben; dass keinen Widerstand zu leisten einer Selbstaufgabe gleichkäme und Rebellion nicht nur von unten kommen dürfe, fühle ich mich am Ende eher verunsichert als ermutigt, aufzubegehren gegen … ja, gegen wen und was eigentlich? Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit, Diskriminierungen? Alles? Und ich finde es einerseits gut, auf diese Art überfordert zu werden, weil es die überlastete Krisenwahrnehmung junger Menschen sehr eindrücklich widerspiegelt. Andererseits aktiviert sich bei der ganzen Verschränkung von Krisen und Baustellen wieder der Selbstschutzmechanismus. Das ist von einer Menschheit allein nicht mehr zu bewältigen, raunt mir eine Stimme ins Ohr, und plötzlich sitze ich nur noch resigniert in einem Theatersaal und hoffe, dass das Ende bald zu Ende ist. Innerer Jonathan Franzen ab.

Auftritt innerer Christian Lindner (WTF?! Warum gibt es dich?): „Das ist eine Sache für Profis.“

Am Ende räumen die Darsteller*innen die Bühne für das Publikum, das doch bitte die Rolle der furchtlosen Held*innen mal kurz übernehmen solle, weil das alleine dort vorn so unglaublich anstrengend und beängstigend sei. Es passiert: Nichts. Nothing. Das Stück ist zu Ende, bitte alle nach Hause gehen mit dem schlechten Gewissen, wieder eine Chance ungenutzt verstreichen lassen zu haben. Beim Verlassen des Theatersaals fällt es mir trotz aller Appelle im Stück nicht schwer, mich für meine Untätigkeit und Distanzierung zu rechtfertigen: Es war doch nur ein Theaterstück. Individuelle Probleme sind halt individuell. Was können wir denn wirklich schon bewirken, Stichwort Wirtschaft, Großkonzerne und Kapitalismus, diese Snitch. Innerer Christian Lindner ab (raus hier, aber plötzlich!).

Doch in die Frustration über diese Ohnmacht mischt sich noch etwas anderes. Es ist das Unwohlsein, das entsteht, wenn man die eigene Distanziertheit zu existenziell wichtigen Themen vorgeführt bekommt. In dem Moment, als im Theatersaal zu Beginn des Mittelteils die Lichter angehen, kann ich mich nicht mehr ausreichend vom Geschehen auf der Bühne und diesen ganzen unbeantworteten, aber wohlbekannten Fragen abkapseln. Dabei erwartet niemand, dass irgendjemand diese Fragen an diesem Abend zuverlässig beantworten kann. Antworten geben ist weder die Aufgabe von Theater noch von Kunst im Allgemeinen. In der Hinsicht ist das Stück von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil es das permanente Scheitern im Kampf für eine bessere Welt und den Umgang damit thematisiert. Krise künstlerisch zu verarbeiten ist oft nur durch die Reflexion einer unmöglichen Verarbeitung möglich. Was kann ich von einem Theaterstück mehr erwarten, als mir Denkprozesse zu veranschaulichen und Impulse für neue Fragen zu bekommen? Und so ist das Unwohlsein, das ich am Ende des Abends mit nach Hause nehme, auch ein produktives. *Jonathan Franzen, US-Amerikanischer Schriftsteller der Gegenwart, veröffentlichte 2019 einen vieldiskutierten Essay zur Klimakrise in The New Yorker