Echter Schnee

Mit klugen Details an Bühnenbild und Kostüm findet das Ensemble Schule.Spiel.Theater – Ein Projekt der Theatervermittlung des Oldenburgischen Staatstheaters in Kafkas “Das Schloss” Bilder für eigene Erlebnisse.

Es hallt Lachen durch den Raum, von oben rieseln Schneeflocken wie im Frau-Holle-Märchen auf die Bühne, ein Gewusel aus Händen reckt sich nach oben in dem Versuch, einen Fitzel zu greifen. Als der Flockenflug langsam versiegt, werden mit einem Mal die Leinwände, die bisher die gesamte Kulisse des Geschehens ausgemacht haben, hinabgefahren und geben den Blick frei auf einen schäfchenbewölkten blauen Himmel. Am Ende des Stückes “Zutritt gesucht!?” klärt sich die düstere graue Stimmung auf – und die Ensemblemitglieder sammeln sich in einem Standbild im Zentrum der Bühne, dicht an dicht, die Hände auf die Schultern der Nachbar*innen gelegt, ein Farbwechsel von neonorangen Westen neben mausgrauen Hoodies.

Die Leinwände beginnen im Stück als Projektionsfläche für graues Mauergestein, welches die Zuschauenden gleich in das Setting des Schlosses katapultiert, das für Kafkas Roman namensgebend ist. Durch die Aufführung spannen sich gekonnt gezogene Parallelen zwischen dem Textmaterial und aktuellen Themen, zwischen Romanvorlage und persönlicher Erfahrung. Erzählt wird die Geschichte von K., der in einem ihm unbekannten Dorf eintrifft und dessen Aufenthaltswunsch sich durch die intransparente Verwaltung des Schlosses als sehr kompliziert gestaltet. Analog werden die Alltagsrealitäten von Menschen mit Migrationserfahrung behandelt, die sich als Ankommende einer beurteilenden Instanz gegenübergestellt sehen, welche die Entscheidungsgewalt über den weiteren Aufenthalt trägt.

Das Stück verstrickt auf gekonnte Weise den erzählten Inhalt mit den Bildern, die auf der Bühne gezeigt werden. Aus dem Off erklingen sehr persönliche Berichte von Menschen mit Fluchterfahrungen, die von einem breiten Spektrum an Gefühlen erzählen: Erst in der Sprache der Betroffenen werden Anekdoten erzählt vom ersten Schultag in Deutschland und der dort empfundenen Verunsicherung, über Erleichterung über freundliche deutsche Lehrkräfte, bis hin zu Unverständnis und Irritation über nicht enden wollende Formulare und Behördengänge. Diese Mehrstimmigkeit schafft einen Raum, in dem die Zuschauenden auch das eigene Verständnis von Sprache hinterfragen können. Die Irritation über bürokratische Fachsprache, die verschlossen und unverständlich bleibt, wird durch die Konfrontation mit mir unbekannten Sprachen auf mich zurückgespiegelt. Im Gegensatz zu den authentischen und persönlichen Worten steht auch die kunstvolle Sprache Kafkas, die hier und da eingestreut wird und die Differenzen, die im ganzen Stück verhandelt werden, verstärkt.

Die Darstellenden selber treten in zwei Gruppen auf der Bühne auf. Eine Gruppe stellt K. dar, die Hauptfigur aus Kafkas Roman, die andere die Bewohner*innen des Dorfes. Die Gruppe, die Dorfbewohner*innen, bzw. im übertragenen Sinne die Mehrheitsgesellschaft darstellt, ist ganz in Grau gekleidet, während die Personen, welche K. bzw. die Ankommenden spielen, jeweils zusätzlich kleine neonorange Details tragen. Beispielsweise eine orange gestreifte Warnweste, eine Mütze oder eine Krawatte. Im grellen Rampenlicht werden die Darstellenden so ungewollt markiert, während die Mitglieder der anderen Gruppe in ihren grauen Kostümen beinahe vollständig mit den grauen Leinwänden verschmelzen. Die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft stellen hiermit eine Einheit dar, denen sich die durch die neonfarbenen Elemente als andersartig markierten ankommenden Personen einzugliedern haben – jedoch ist dies nur möglich, wenn sie sich einem Teil ihrer Selbst (verkörpert durch einem Teil ihres Kostüms) entledigen. Gleichzeitig können sich die K.-Darstellenden nicht verstecken und werden konstant auf der Bühne hervorgehoben. Es entsteht so auch eine ständige Markierung der Akteur*innen als “anders”.

Auch das Nutzen von Leinwänden als reale Projektionsflächen öffnet Räume für die Verhandlung von Vorurteilen, die Menschen einer Mehrheitsgesellschaft auf beispielsweise Geflüchtete projizieren. Die Diskrepanzen in dem Verhältnis der beiden Gruppen – der bereits etablierten Struktur, die Ankommenden den Zutritt verweigert – wird auch in anderen Szenen stark hervorgehoben. Zum Beispiel, als die Darstellenden von K. in einem Kreis aufgestellt nach außen blicken, während die Dorfbewohner*innen um sie herum schleichen. Der Fokus liegt nur selten auf einzelnen Darstellenden, meistens findet der Auftritt als Gruppe statt, welche die Dringlichkeit der Botschaft verdeutlicht, aber auch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit auslöst – niemand ist alleine. Alle fallen gemeinsam hin, stehen wieder auf, drücken gegen eine unsichtbare Wand.

Die Präsenz und Energie des Ensembles vibriert auch nach dem Applaus noch im Raum. Es wird beim Applaus ausgiebig gelacht, gefeiert und getanzt. Diese augenscheinliche Verbundenheit der Spielenden berührt mich sehr, vor allem nachdem es in dem Stück in vielen Punkten um genau das Gegenteil ging: Um konstruierte Andersartigkeit, um Kontraste, fehlende Verständigung, verweigerten Zutritt also auf einer Vielzahl von Ebenen. Es werden Bilder gezeichnet von Differenzen, Verunsicherung und Wut, aber auch von Begegnungsräumen und einem Zusammenkommen am Ende. Als Zuschauende*r bekommt man Gänsehaut – und das nicht nur wegen des echten Schnees.