Was mir im Kopf herumschwirrt, als ich den Theatersaal verlasse, sind Geräusche. Dissonanzen aus sich überlagernden Satzteilen, schnelles Atmen, das Geräusch von nackten Füßen, unter denen Zweige brechen, der Satz „ich bin Medea“ in sechs Tonlagen: eine Stimme wütend, eine Stimme kaum zu hören, eine Stimme schreiend. Im Kontrast dazu die Stille, zu der der tanzende, zuckende Körper auf der Bühne beinahe deplatziert wirken.
Das Stück beginnt mit einem „Was bisher geschah“ per Stimme aus dem Off, die mythischen Namen fliegen mir nur so um die Ohren und rufen vage Erinnerungen an die Hörspiele griechischen Sagen wach, die ich als Kind gehört habe. Dieser anfängliche Textblock legt die Grundlage für die Zustände der Medea, welche die Darstellenden im Folgenden auf die Bühne bringen. Die konkrete Handlung ist in den folgenden Szenen allerdings weniger wichtig, ich habe immer mehr das Gefühl, Teil eines Blurrs zu werden. Wirklich ein Teil davon - denn dadurch, dass die Darstellenden sich Zeit nehmen, um die Szenen lange auszuspielen, fühle ich mich auch als zuschauende Person in die verschiedenen Zustände Medeas versetzt. Die Akteurinnen fühlen Medea mit dem ganzen Körper nach, rennen im Kreis, reißen sich gegenseitig zurück, sind außer Atem, angestrengt, bäumen sich auf, brechen zusammen. Eine Darstellerin tritt barfuß auf einen Zweig, ich flüstere Emma neben mir zu: „Muss das nicht wehtun?“. Das einfache Bühnenbild aus kahlen Zweigen wird im Laufe des Stückes zertrampelt und verwüstet; zerstreut sich von einem ordentlichen Stillleben aus reglosen Körpern zu einem Raum voller Bruchstücke.
Feste Pfeiler, die für mich die Eckpunkte der Medea-Geschichte verankern, bleiben die Zitate aus dem Textmaterial von Euripides und Heiner Müller. Mit zerrissenen Klamotten und dramatisch verweintem Augen-Make Up zeichnet das Ensemble auf den ersten Blick das klassische Bild einer tragischen, aufgelösten Frauenfigur, welches Medea zunächst in einem für das Publikum bekannten Raum verortet. Im Laufe des Stückes schaffen es die Akteurinnen jedoch, mit diesem Klischee zu brechen und neue Facetten ihrer Figur herauszuheben.
Ansonsten zeigen die Spielerinnen eine Aufspaltung der Figur Medea in Momentaufnahmen, eingebettet in Tanz, Geräusche, Körperlichkeit. Am Ende habe ich das Gefühl, mehr eine Emotion als eine wirkliche Handlung greifen zu können - und genau darauf kommt es den Medea-Variationen an: Fetzen, Facetten, Aufspaltungen, Widersprüchlichkeit. Variationen in dem Spiel der einzelnen Personen, Variationen in den Szenen, der Neuverhandlung einer bekannten Figur. Einen Mythos nacherzählen kann jede*r. Doch hier zerfließt Medea, stolpert, trommelt gegen eine Wand, rutscht ab, zittert, schreit, lacht, wiegt einen zerbrochenen Stock in den Armen, bettet ihn behutsam auf dem Boden, steht still. Das Tanztheater Lysistrate schafft es, mit Bewegungselementen die Puzzleteile einer Figur zu zeigen, die sich am Ende nicht wirklich zusammenfügen, sondern für mich im Raum verstreut liegen bleiben. Das körperliche Darstellen einer Zerrissenheit zwischen Rachelust, Verzweiflung, Liebe und der Ambivalenz der Rolle der Medea als Mutter, Geliebte, Verstoßene, Außenseiterin, Mörderin.