Das Patriarchat in zwei Gesten

FZ-Redaktionsmitglieder Jannika und Diana interviewen sich in dieser Rezension gegenseitig, wobei Jannika Diana mit kritischen Fragen ins Schwitzen bringt. Besteht der Sex-Education-Megafan Jannikas Prüfung und kann die Ehre des Stückes verteidigen? Zwischendurch wird es sogar kurz sexy, ganz im Sinne des Stücks.

J: Wir haben gestern Sex Education vom stellwerk junges theater Weimar gesehen. Für mich ging es darum, aufzuzeigen, dass junge Menschen mit einem veralteten Bild von Sexualität und Gender aufwachsen und darum, wie wichtig es wäre, das endlich mal aufzubrechen - z.B. auch im Aufklärungsunterricht in der Schule. Worum ging es für dich im Kern? D: Da bin ich voll bei dir! Ständig hat die Kritik an institutioneller Aufklärungsarbeit mitgeschwungen. Darüber hinaus stand für mich das Empowerment junger Menschen im Fokus: Sie darin zu bestärken, ihre eigene Identität und Sexualität zu erkunden, bisherige Strukturen zu hinterfragen und aufzubrechen. Und der Spaß, den das machen kann.

J: Lass uns doch mal über die Mittel sprechen, die die Gruppe dafür benutzt hat. Zum Beispiel haben die Spieler*innen sich immer wieder von den Figuren, die sie auf der Bühne darstellen, abgegrenzt und dem Publikum ganz klar gesagt: Wir sind gerade Kunstfiguren auf einer Bühne. Ich muss sagen, dass ich dadurch etwas rausgeworfen wurde. Ich hätte mir gewünscht, dass sie dem Publikum zutrauen, diese Unterscheidung selbst hinzubekommen. Wenn jemand auf einer Bühne steht, gehe ich grundsätzlich davon aus, dass diese Person eine Rolle spielt. Wie hast du das wahrgenommen? J: Lass uns doch mal über die Mittel sprechen, die die Gruppe dafür benutzt hat. Zum Beispiel haben die Spieler*innen sich immer wieder von den Figuren, die sie auf der Bühne darstellen, abgegrenzt und dem Publikum ganz klar gesagt: Wir sind gerade Kunstfiguren auf einer Bühne. Ich muss sagen, dass ich dadurch etwas rausgeworfen wurde. Ich hätte mir gewünscht, dass sie dem Publikum zutrauen, diese Unterscheidung selbst hinzubekommen. Wenn jemand auf einer Bühne steht, gehe ich grundsätzlich davon aus, dass diese Person eine Rolle spielt. Wie hast du das wahrgenommen?

D: Ich fand das fantastisch. Die verschiedenen Personen im Stück wurden ja alle nur schematisch gezeichnet. Bis auf vage Eindrücke ihrer sexuellen Identitäten und ihre Utopien haben wir sie nicht wirklich kennen gelernt. Ihre auf einen Buchstaben gekürzten Namen verraten uns: Das sind nur Sinnbilder für uns junge Menschen. In ihnen können wir uns alle wiederfinden. Die Schauspieler:innen spielten nicht nur M., J. oder K., sondern verkörperten für mich eine ganze Generation, auch wenn sie behaupteten für nichts zu stehen. Auch wir konnten uns so ein Stück weit hinter den Kunstfiguren verstecken. Außerdem ist der Punkt der Grenzziehung, den du angesprochen hast, vor allem bei einem immer noch so tabuisierten Thema wie Sexualität, zentral. Die Kunstfiguren bieten die nötige Sicherheit auf der Bühne, zu behaupten, man wichse zweimal am Tag und trage seine Vulvenbehaarung auf 5mm, obwohl man eigentlich acht mal am Tag wichst und auf 5cm abfährt.

J: Ich glaube, du sprichst schon einen weiteren Punkt an, den ich spannend fand: Die Scham bei einem Thema wie Sex sitzt sehr tief, das wurde im Stück auch deutlich so angesprochen. An den Reaktionen im Publikum habe ich gemerkt: Egal welches Alter und welche Herkunft die Zuschauer*innen hatten, viele waren peinlich berührt. Ich mag es sehr, wenn mir so der Spiegel vorgehalten wird und ich merke: Oh, ganz so offen und frei wie ich immer denke, bin ich vielleicht doch noch nicht. Gleichzeitig hätte ich mir aber gewünscht, dass es im Stück noch mehr darum geht, woher diese Gefühle kommen. Dass es ein gesellschaftlich-systematisches Umdenken geben muss, auch im Aufklärungsunterricht, aber eben nicht nur. Vielleicht ist das von einem einzelnen Stück aber auch zu viel verlangt. Und es gab ja den Mittelfinger-Moment, als sie das Patriarchat in zwei Gesten darstellen - eben zweimal Mittelfinger - und das Publikum dann auffordern, es ihnen gleichzutun - da hatte ich Gänsehaut.

D: Ich finde, das Stück hat genau das geboten: Also die Thematisierung, dass es ein systemisches Umdenken geben muss. Vielleicht nicht explizit auf der Textebene - obwohl auch dort verzerrte Bilder durch Medienkonsum, Pornografie und elterliche Erziehung angeführt wurden. Aber vor allem das Stück selbst, die Form, die Sprache, die unangenehmen Gefühle, das Vor-den-Kopf-Stoßen hat in radikalster Weise dieses Umdenken eingefordert. Weil man beim Zuschauen an sich selbst entdecken konnte, dass bisher etwas schief gelaufen ist. Und durch Momente, wie “DAS PATRIARCHAT IN 2 GESTEN” wurde vielleicht keine konkrete politische Lösung bereitgestellt, aber Selbstbehauptung gefördert - eine individuelle Lösung.

J: Ja, da stimme ich dir zu. Sowieso finde ich, es war eine ganz gute Mischung aus lustigen Momenten und aus solchen, die ernste Themen ansprechen, zum Beispiel, als es um sexualisierte Gewalt ging. Allerdings hatte ich zwischendurch immer wieder den Wunsch, dass zum Beispiel auch Sex zwischen queeren Menschen auf der Bühne dargestellt wird, oder die Lebensrealität queerer Menschen deutlicher thematisiert wird. Dass es reale Konsequenzen gibt, wenn du dich nicht in die Binarität der Geschlechter einfügst, oder wenn zwei Männer auf der Straße Händchen halten, wurde mir zu wenig anerkannt. Außerdem habe ich mich überraschenderweise sehr an dem Wort “boyfriend” gestört! Das wirkte so gewollt, zu performativ.

D: Ok, Boomer. Ich habe die Sprache des Stückes als total angenehm empfunden. Man hat gespürt, wie den Schauspieler:innen keine weltfremden Worte in die Münder gelegt wurden. Es war natürlich, echt, authentisch. Genau, wie Sexualaufklärung klingen soll. Die Kritik, dass zu wenig queere Lebensrealität dargestellt wird, kann ich im Ansatz nachvollziehen. Ich glaube aber, dass genügend negative Erfahrungen widergespiegelt wurden. Dass diese nur erwähnt und nicht schauspielerisch dargestellt wurden, finde ich, zeugt eher von Sensibilität. Man muss darüber reden, definitiv - aber wir können uns im Stück trotzdem in diese Utopie flüchten, in der die Kunstfiguren keine traumatischen Ereignisse vor unseren Augen durchleben müssen. Und queerer Sex? Ja, da bin ich dabei.

(Hier unterbrechen wir das Interview für 30 Minuten…)

J: Das war schön. Spaß beiseite, ich kann dir da zustimmen. Ab und zu Utopie ist sehr angenehm. Lass uns nochmal kurz zurück zu der Form des Stücks kommen: Die Spieler*innen haben immer wieder die vierte Wand durchbrochen, sind teilweise auch aus der Rolle gefallen und haben privat gelacht. Das fand ich sehr schön, weil man sehen konnte, dass sie viel Spaß beim Spielen haben. Dazu kamen Mittel wie voice over, chorisches Sprechen, nacheinander ans Mikrofon treten. Auch mit Licht wurde viel gearbeitet. Wie hat dir die Form des Stücks gefallen?

D: Das Lachen der Schauspieler*innen war genial. Das hat genau den Punkt widergespiegelt, den das Stück aufmacht: Sexualität kann Spaß machen. Sexualerziehung kann Spaß machen. Also hört auf, das ganze so ernst zu nehmen! Für die improvisierten Passagen gilt dasselbe: Sich von der eigenen Scham zu befreien ist nice! Die Klokabinen symbolisieren das Gefühl gut. In ihnen passieren Dinge, über die man eigentlich nicht spricht, die aber vollkommen menschlich sind, über die man reden lernen kann. Auf Klotüren werden Penisse gemalt, ficki-ficki-Sprüche gekritzelt und manchmal auch intime Probleme besprochen. Irgendwie herrscht dort sexuelle Anarchie. Außerdem dienen sie als Rückzugsraum, im Stück auch für die Schauspieler:innen. Eine Person lauscht an den Kabinentüren, mit ihr werden - anonym - Gewalterfahrungen geteilt. Die Kabinen fungieren also - neben der coolen Serienanspielung auf “Sex Education”, wo auch Toilettenkabinen als Orte vieler Möglichkeiten gezeigt werden - gleichzeitig als Ort der sexuellen Befreiung und als safe space.