Was will ICH denn eigentlich?

Im gestrigen Stück “Sex Education” beschäftigten sich die Spieler*innen mit den Defiziten der sexuellen Bildung und Aufklärung. Unter anderem beschreiben sie in Utopien ihre Wünsche und Forderungen. FZ-Redakteurin Emma spinnt dieses Gedankenexperiment weiter.

In 10 Jahren bekommt E. von keinen Cis-Typen auf Partys mehr erzählt, dass ihnen Nagellack bei Männern irgendwie „gay vibes“ geben. E. wechselt nicht mehr die Straßenseite, weil ihr nachts jemand auf dem Gehweg entgegenkommt. Es passiert nicht mehr, dass in einer Gesprächsrunde, in der sie die einzige nicht-männliche Person ist, niemand sie beim Reden ansieht und niemand das Wort an sie richtet. E. denkt nicht darüber nach, sich stereotyp männlich zu kleiden, damit sie ernster genommen wird und sie denkt nicht darüber nach, sich nicht stereotyp männlich zu kleiden, damit sie nicht als unfeminin wahrgenommen wird. Und sie rasiert ihre Achselhaare nicht. E. schaut nicht in den Spiegel und findet sich zu dick oder sieht sich Fotos an und findet sich hässlich. E. findet ihre Brüste schön. Sie arbeitet in einer Firma, die biologisch abbaubare Vibratoren herstellt. Dort verdient sie so viel wie ihre männlichen Arbeitskollegen und in ihrer Firma sind die meisten Führungspositionen von FLINTA* besetzt.

Toiletten sind nicht mehr mit kleinen Menschen-Symbolen gekennzeichnet, die entweder ein Kleid oder einen Anzug tragen, sondern durch Zusätze wie „ohne Pissoir“ und „mit Pissoir“. Außerdem sind Periodenprodukte auf öffentlichen Toiletten frei zugänglich für alle, auch auf den Toiletten mit Pissoir. (Hormonelle) Verhütung ist nicht mehr nur „Frauensache“ und E. muss nicht fürchten, sich strafbar zu machen, wenn sie abtreibt, denn es gibt zentrale, öffentliche Stellen ohne lange Wartezeiten. In einer kleinen Stadt in einem großen Haus, mit Hühnern im Garten lebt E. mit ihrem*ihrer Lebenspartner*in in einer hierarchie-freien, nicht-monogamen Beziehung, die auf Definitionen verzichtet und in der Bedürfnisse offen kommuniziert werden.

E.s Kinder lernen in der Schule, dass es mehr als zwei Geschlechter und mehr als zwei Sexualitäten gibt. Sie lernen nicht nur die Anatomie der Vagina sondern auch die der Klitoris. Sie werden lernen, dass jede Vulva anders aussieht und dass jede Vulva schön ist. E. erzieht ihre Kinder ohne konventionelle Rollenbilder, damit sie sie sich selbst aussuchen können, mit welcher Genderidentität sie sich wohl fühlen. E. sieht die Utopie als eine Form des Widerstands, als Methode, Defizite aufzuzeigen. Sie sieht die Utopie auch als Motivation, Inspiration und als Möglichkeit, zu erkennen, wofür man eigentlich kämpft.

Aber E. will, dass es nicht bei der Utopie als Wunschvorstellung bleibt, sondern dass, von ihr ausgehend, Handlungsschritte abgeleitet und Lösungsstrategien gesucht werden. E. wünscht sich, dass jede*r eigene, ganz persönlichen Utopien entwirft, sie ausspricht und nach und nach zur Realität werden lässt. Denn was wollt IHR eigentlich?

Ansgar hat noch drei Fragen zu Emmas Rezension. Hier sind sie - und Emmas Antworten darauf.

A: Ich mag deine Rezension – dass du auch eine Utopie gesponnen hast, wie die Ensemblemitglieder im Stück gestern: Bedeutet das eigentlich, dass du gerne Teil der Inszenierung gewesen wärst, auch mit in deren Safe space? Es war eine tolle Inszenierung und ich habe gesehen, wie viel Spaß die Spieler*innen auf der Bühne hatten, wie sicher sie sich miteinander und mit dem Stück gefühlt haben. Dieses Ensemble-Gefühl, das ist auf jeden Fall etwas, das mir sehr fehlt, seit ich selbst nicht mehr regelmäßig Theater spiele.

A: Ich mag deine Rezension – dass du auch eine Utopie gesponnen hast, wie die Ensemblemitglieder im Stück gestern: Bedeutet das eigentlich, dass du gerne Teil der Inszenierung gewesen wärst, auch mit in deren Safe Space?

Es war eine tolle Inszenierung und ich habe gesehen, wie viel Spaß die Spieler*innen auf der Bühne hatten, wie sicher sie sich miteinander und mit dem Stück gefühlt haben. Dieses Ensemble-Gefühl, das ist auf jeden Fall etwas, das mir sehr fehlt, seit ich selbst nicht mehr regelmäßig Theater spiele.

A: Warum motiviert eine Utopie und macht nicht blind für die Probleme der Realität?

Ich würde sogar eher sagen, dass sie für die Probleme der Gegenwart sensibilisiert, weil ich mir ja ständig vor Augen führe, wo die Differenzen, die Unterschiede zwischen meiner Gegenwart und meiner Utopie sind. Wenn man sich nur auf die Probleme der Gegenwart konzentriert, auf das, was schlecht läuft, was wütend oder traurig macht, kann das unheimlich frustrierend sein und auch lähmen. Utopien zu entwerfen kann sehr viel Kraft geben. Es hilft, den Fokus auf die positiven Aspekte zu lenken und zu erkennen, wenn sich die Realität dann irgendwann der Utopie annähert.

A: An welchem Punkt ist die Utopie schon angekommen?

Die richtigen Menschen zu suchen, hilft ungemein beim Erreichen utopischer Zustände. Ich spüre meine Utopie schon in einigen Freund*innenschaften, in der Art und Weise wie wir kommunizieren und uns austauschen. Ich merke sie auch in mir selbst und in meinen Ansichten, die sich ändern, je mehr ich mich mit bestimmten Themen auseinandersetze. Je mehr Gedanken ich mir über mich mache, mich frage, wer und wie ich sein möchte und wie ich auf die Welt um mich Einfluss nehmen möchte, desto näher komme ich meiner Utopie. Naja, und was die Toiletten-Beschriftung angeht, sind die Berliner Festspiele schon sehr utopisch.