Zweifellose Klarheit

Beeindruckend, wie einfach Kafka auf einmal wirken kann, zerbrechen sich doch so viele Menschen jeden Tag den Kopf über seine Texte. Das Ensemble von Schule.Spiel.Theater aus Oldenburg hat für viel Klarheit gesorgt, findet Jannika.

Das Stück Zutritt gesucht!? dauert nur gute dreißig Minuten. Super, denke ich mir, dann kann ich heute verhältnismäßig früh nach Hause gehen und endlich mal wieder acht Stunden schlafen. Und bei einer Textgrundlage von Kafka verstehe ich wahrscheinlich sowieso nicht, worum es eigentlich geht, also kann ich vielleicht auch einfach im Stück schlafen (Spaß, das würden wir in der Redaktion natürlich niemals tun … ). Womit ich nicht gerechnet habe, ist die Energie und die Präsenz des Oldenburger Ensembles.

Gleich zu Beginn bemerke ich, dass eine Person schon auf der Bühne ist, während sich die Zuschauer*innen noch unterhalten und auf ihren Plätzen einfinden. Ich frage mich, wie viele Menschen außer mir das gerade wahrnehmen. Von Anfang an bin ich sehr aufmerksam, weil mich unmittelbar die unausgesprochene Aufforderung erreicht: Hört uns jetzt zu. Das mache ich dann auch, sobald das Stück beginnt. Ich höre zu, lasse mich anstecken von der Präsenz der Spieler*innen, bin ganz bei ihnen und lasse mich auf die Welt ein, die sie sich auf der Bühne neu erschließen. Was mir geboten wird, ist eine außergewöhnlich kluge Verwebung von Texten, Sprachen, Konflikten und Emotionen. Es gibt Momente der Verwirrung (über bürokratische Absurditäten), der Wut (über die Machtlosigkeit), der Angst (vor einem System, das Menschen willkürlich Chancen verwehrt), der Freude (über echten Schnee).

Dabei bietet Kafkas Text Das Schloss in seiner Zerrissenheit eine Projektionsfläche für Ängste und Zweifel: Einerseits wird sehr klar beschrieben, was passiert: K. kommt in ein Dorf mit Schloss, in dem er gern bleiben und arbeiten würde, aber ihm wird der Zutritt und die Arbeit verwehrt. Andererseits ist überhaupt nicht klar, warum ihm all diese Dinge passieren und was von ihm erwartet wird. K. wird mit Informationen gefüttert, die für seine Situation unbedeutend sind. Er tritt auf der Stelle, kommt nicht weiter, auch wenn es so scheint, als würde endlich etwas passieren. Als ihm Hilfe angeboten wird, merkt er, dass selbst die Dorfbewohner*innen nicht wirklich wissen, was im Schloss vor sich geht. Wieso alle anderen dieses bürokratisch-undurchsichtige System einfach hinnehmen, kann K. nicht verstehen. Eine der eindrucksvollsten Stellen des Stückes ist für mich gleichzeitig eine, bei der ich nicht mehr wirklich sagen kann, ob es eine Forderung K.s oder eine des Ensembles ist, aber fast spielt es keine Rolle mehr, denn sie ist so stark gespielt, dass ich mich ihr nicht entziehen kann: Die Spieler*innen stehen auf der Bühne, Blick Richtung Publikum und fordern in aller Deutlichkeit: Ich will Respekt von euch!

So werden die Textpassagen aus Kafka mit Texten des Ensembles geschickt kombiniert. Es geht um die Ankunft in Deutschland, erste Tage in der Schule, Angstträume und echten Schnee. Die Stimmung aus Kafkas Schloss – diese Ungewissheit, die Machtlosigkeit, die Ohnmacht – wird auf die Lebensrealität vieler neu in Deutschland ankommenden Menschen übertragen, ohne dass es performativ oder gewollt wirkt. Denn die Vorwürfe, die im Stück formuliert werden, finden vor allem auf emotionaler Ebene statt. Bei mir kommt an: Schau, wie unmenschlich du mich behandelst, schau, wie kaputt euer System ist. Bei mir kommt an: Du bist Teil dieses Systems, warum lässt du das zu? Bei mir kommt an: Ich bin ein Mensch, der es verdient hat, ein Leben zu führen, das nicht von bürokratischen Hürden und Abweisung geprägt ist. Und all das wird gleichzeitig subtil und doch klar, gleichzeitig zwischen den Zeilen und doch sehr direkt formuliert, ähnlich wie in Kafkas Schloss eben. Bei mir kommt eine Dringlichkeit an, ausgelöst vor allem durch die Bühnenpräsenz und die Energie der Spielenden. Auch die so clever gestaltete Bühne, die in ihrer Einfachheit einen Kontrast zur undurchsichtigen Lebensrealität K.s und eine zweifellose Klarheit bietet, trägt zu diesem Gefühl bei.

Genau wie die Textvorlage bietet auch die Bühne eine Projektionsfläche (buchstäblich, da auf die Leinwände auf der Bühne Mauern, Himmel und Papierstapel projiziert werden) – und einen Ort, an dem diese Emotionen und Erfahrungen eine Berechtigung bekommen, wo sie verarbeitet, angeprangert und von außenstehenden Personen wahrgenommen werden. Die ganze Zeit über haben die Spieler*innen des Ensembles eine Kraft, die mich keinen Moment daran zweifeln lässt, dass das, was auf der Bühne gespielt wird, echt ist; dass all diese Emotionen ihre Berechtigung haben und dass ich verdammt nochmal zuhören muss. Was hier gezeigt wird, ist wichtig. Was hier gezeigt wird, darf nicht überspielt werden. Was hier gezeigt wird, darf nicht untergehen. Außer vielleicht im Applaus, und der ist wuchtig.